Als ich dieses Titel-Bild mit dem verletzten Jungen Mann, der von Feuerwehrleuten versorgt wurde, auf einer Warschauer Zeitung am Tag nach dem Anschlag am 14.11. 2015 sah, gefror mir das Blut in
den Adern – buchstäblich. Ich musste mich erst einmal hinsetzen und tief Luft holen. Was ich sah, war auch ein tief religiöses Gefühl, welches der Fotograf dort eingefangen hatte. Es erinnerte
mich an Bilder der Kreuzabnahme… Mir lies dies keine Ruhe mehr, ich musste damit was machen.
In Deutschland war dieses Bild in der Presse nicht zu finden. Für mich war es daher erst recht ein Anlass, da weiter zu machen, was diese Titelseite der Zeitung in mir auslöste: Hilf- und
Fassungslosigkeit, Trauer und Bestürzung - durch eine Tat von jungen Menschen auf junge Menschen, die gerade dabei waren, Musik zu hören und zu erleben...
Vor einem Jahr nun habe ich damit begonnen, die Ereignisse der Terror-Anschläge in Paris und anderswo in Europa bildnerisch zu bearbeiten. Hierbei geht es für mich auch um einen Anschlag auf die
Künste, auf die göttliche Kraft des Lebens und darum, wie blind und verblendet Menschen werden können.
Johannes Kriesche, März 2017
Apocalypse des Realen, 170 x 220 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2017
Unterm Kreuz, 120 x 100 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
"Viva la musica", 100 x 140 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
la musica siamo noi (Die Musik sind wir) 130 x 150 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
Vortagesrosen, 90 x 90 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
empatia mancante, 220 x 170 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
Blendung des Gedächtnis, 170 x 140 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2017
NO 2, 50 x 120 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2017
NO 1, 50 x 70 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2017
Schatten über Nizza, 90 x 120 cm, Öl und Glaskugeln auf Leinwand, 2016
Das Reale und das Fiktive – eine Symbiose in der Bilderserie
„Wenn die Vernunft die Augen schließt“
Die Bilderserie „Wenn die Vernunft die Augen schließt“ von Johannes Kriesche hinterfragt mit visuellen Mitteln das Reale, die sogenannte Wirklichkeit, in der wir leben. Elemente aus dieser
Realität wurden von dem Künstler zu neuen Bildwirklichkeiten zusammengefügt, ohne mit erhobenem Finger zu urteilen. Vielmehr macht er durch eine besondere Bildsprache auf Probleme aufmerksam. Der
Versuch, Kriesches Bilder stilistisch einzuordnen, führt zum Begriff des Dokumentarischen, der nicht nur als Ergebnis der formal-ästhetischen Darstellung zu verstehen ist, sondern sich auch aus
dem Inhalt der Werke und aus der künstlerischen Intention ableiten lässt.
Die Bilder thematisieren Terroranschläge aus jüngster Zeit. Das Besondere dabei ist die Mehrschichtigkeit der großformatigen Gemälde: Sie bestehen zum einen aus einer einfarbigen Szene mit
dokumentarischem Charakter – etwa einem Opfer des Terroranschlags bei der Gedächtniskirche in Berlin im Dezember 2016, auf einer Trage der Sanitäter liegend, dargestellt im Bild „Blendung des
Gedächtnisses“; oder etwa einem Opfer des Terroranschlags in Paris im November 2015, das von Feuerwehrmännern getragen wird, dargestellt im Bild „Unterm Kreuz“. Auf diese Bildmotive sind kleine
Glaskugeln appliziert, die im Gestus einer grafischen Linie die Form von Symbolen, die in unserem kollektiven Bewusstsein haften, bilden – Szenen aus der griechischen Mythologie (s. das Bild
„Apokalypse des Realen“), aber auch Stacheldraht oder jene tropfenförmigen Icons, die bei Google Maps den Standort markieren (s. das Bild „empatia mancante“).
Die Reflexionsfläche der Glaskugeln lässt die Bilder je nach Betrachtungsperspektive anders wirken. Diese beiden gestalterischen Mittel – die Ölmalerei und die Perlenapplikation – ergänzen sich
nicht nur ästhetisch, sondern erweitern auch die Aussagekraft jedes der Gemälde. Die Kunstwerke sind zunächst als kreative Schöpfungen anzusehen und werden erst durch die historische
Fragestellung zu Quellen. Sie sind nicht nur als Dokumente zu betrachten, die historische Ereignisse rekonstruieren, sondern vielmehr als solche, die Empfindungen und Erfahrungen wiedergeben,
modifizieren und speichern.
Die Vorstellungen einer dokumentarischen Darstellung unterliegen im Laufe der Kunstgeschichte großen Veränderungen. Seit der Postmoderne wird unter Dokumentation nicht ein Dokument oder ein
Abbildungsverfahren verstanden, sondern eine gestalterische Arbeit. Die Wirklichkeit wird demzufolge nicht dupliziert, sondern in eine besondere Form überführt. Die Erweiterung der Funktionen von
Dokumentarbildern macht auch die Definition des Begriffes schwieriger, da Fiktion nicht mehr als Gegenpol zu Dokumentation zu verstehen ist.
Der Dokumentarist Christoph Hübner betrachtete in seinem Essay „[d] as Dokumentarische als Haltung“ und verstand darunter: Dokumentarische Haltung bedeutet, sich seinen eigenen Blick auf die
Vorgänge [zu] suchen. [...] Es geht um die eigene, interessierte Perspektive [...], die Wirklichkeit gegen den Strich zu bürsten oder sich nicht auf den ersten Blick zu verlassen. Dingen
nachzugehen, nachzuspüren, ein Interesse zu formulieren. Vorgänge auch unter ihrer Oberfläche zu verfolgen. Aber auch: Bruchstellen zu lassen, in denen der Zuschauer mit seiner Phantasie und
seiner Gedankenarbeit sich einklinken kann.
1
Diese Definition stellte vor allem die persönliche Position des Kreativen in den Vordergrund, die mit der Wirklichkeit in Verbindung steht und eine Form als dokumentarische Darstellung annimmt.
Hübner machte deutlich, dass man dann auf die dokumentarische Ästhetik als Ausdrucksmittel zugreift, wenn „man sich wirklich auf die Realität, auf reale Erfahrungen einlässt [...], weil einem die
einfachen, an Schreibtischen erfundenen Geschichten nicht mehr ausreichen.“
2
Es stellt sich hier die Frage, wie die Grenze zwischen dem Fiktiven und der Realität fixiert werden kann, denn selbst fiktionale Darstellungen sind nicht losgelöst von der Realität. Auch sie „entstehen unter Rückgriff auf die bekannte, reale Welt und basieren somit auf dem gleichen Baustein wie diese.“
3
Wenn Kunstwerke, in diesem Fall die Bilderserie „Wenn die Vernunft die Augen schließt“ von Johannes Kriesche, als zeitdiagnostisches Dokument gelesen bzw. betrachtet werden, gibt es – wie bei
traditionellen (zeit)historischen Quellen – keine Garantie für die Objektivität ihrer Aussagen. Diese soll jedoch auch nicht angestrebt werden, denn es handelt sich um Sinnesproduktionen, um
Gefühle und Emotionen, die immer subjektiv sind.
Dr. Ana Karaminova, Frankfurt am Main, September 2017
1 Hübner, Christoph: Das Dokumentarische als Haltung, in: Augenzeugen –
100 Texte neuer deutscher Filmemacher, 1983, in: Hübner, Christoph: DOKVILLE
(URL: http://www.dokville2012.de/index.php?option=
com_content&view=article&id=26:dasdokumentarische-
als-haltung&catid=12&Itemid=130&limitstart=1), Zugriff am 02.03.2013.
2 Ebd.
3 Ebd.
Skizze: Kunstwerk=Real+Künstlerisch+Persönlich (Ana Karaminova)