Glaskugelsprung

Glasperlensprung

(Katalogtext, Barbara Frenz, von 2019, anlässlich der Ausstellung im Kunstverein BOK, Offenbach)

 

Mit den Blicken der Bilder. Eine Einführung: Stellen Sie sich eine blaue Blume vor. Nicht irgendeine blaue Blume, sondern jene, die nach dem Konzept der Romantik für Natur- und Selbsterkenntnis und damit für Liebe in ihren vielfältigen, individuell durchlebten Erscheinungsformen steht. In Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen träumt der Protagonist von dieser Blume. Vor einigen Jahren stellte auch Johannes Kriesche sich diese vor. Bei ihm fängt die blaue Blume nachts an zu leuchten – – elektrisch. Ihre Geschichte war damit nicht abgeschlossen. Vielmehr kam sie jetzt erst in Gang. In Form von unzähligen farblos-transparenten Glaskugeln. Aus diesen nämlich hätte er die blaue Blume erdacht – für den Durchgang zum Romantischen Museums in Jena; seine Wettbewerbseinreichung war damals in die engere Auswahl gekommen. Seitdem entwickelt Johannes Kriesche hieraus weitere Ideen. Als ein Kernelement davon verselbstständigten sich die transparenten Kugeln im Arbeitsalltag des Künstlers: Offen für Sonnenlicht. Offen für Kunstlicht. Offen für Bewegung. Offen für Brechung. Offen für Verschiebung. Nicht immer offen für Schrift. Offen für die Oberfläche leuchtender 3D-Objekte. Offen für auf Leinwand aufgetragene Ölfarben. Offen für Bilder, die sich selbst generieren, wenn man sich um sie herumbewegt und sie dabei anschaut. Offen für Zeichnungen, das heißt aus Kugeln gemachte Linien, die auf einer Malerei angebracht sind. Offen für die nahezu vollflächige Kugelbeschichtung eines Bildes.
Die Glaskugeln haben Johannes Kriesche ein neues Medium eröffnet, mit welchem er seine spezifischen Bildwelten entstehen lässt. Bei ihm haben diese seit jeher mit Licht sowie mit Nähe und Ferne zu tun, sowohl zeitlich als auch räumlich. Nähe entsteht in ihnen durch konkrete zeithistorische Bezüge. In letzter Zeit – gezwungenermaßen – apokalyptische Ereignisse und mit ihnen unter den Nägeln brennende weltpolitische Probleme, auch architekturförmige öffentliche Institutionen von gesellschaftlicher Sprengkraft und scheinbar friedliche private Alltagssituationen. Er holt diese aktuellen Realitäten in den Bildraum – beispielsweise das EZB-Hochhaus und mit diesem Gentrifizierung und Sparen bis an den Rand der Erschöpfung, eine Serie von Badenden, die er im Hitzesommer 2018 begonnen hat, oder eine Serie von Figuren, die aus einer raum-zeitlichen Fremde zu kommen scheinen.
Räumliche wie zeitliche Ferne, eine spezifische Verfremdung in etwas Anderes, der Lebenswelt Enthobenes entsteht in Kriesches Arbeiten mit dem lichtdurchlässigen Medium, das er über die mit Aktualität aufgeladenen Bilder legt. Bis vor Kurzem war dieses Medium Paraffin. In seinen aktuellen Arbeiten ist die Verfremderschicht, die man auch als die „Kriesche-Brille“ bezeichnen kann, fragmentiert. Fragmentiert in jene unzähligen transparenten Glaskugeln, deren Strukturgebung an antike Mosaiken, auch an Pixel oder – wenn sie nicht vollflächig, sondern linear ist – an Body-Art erinnert, die auf den Körper der Leinwand gebracht ist. Kriesche gibt den Bildern selbst einen Blick – oder richtiger: Tausende von Blicken. Die zeitliche Nähe, die durch die gewählten Themen beziehungsweise konkreten Motive entsteht, wird damit wieder in die Ferne gerückt. Stellt man sich vor die Arbeiten, kann man das erfahren. Beispiele dafür sind die bereits erwähnten vier Porträts des EZB-Towers in Frankfurt am Main, der bis vor Kurzem ins Atelierfenster des Künstlers ragte, mittlerweile von einem Fiat-Chrysler-Neubaukomplex verstellt ist. Ein übermächtiger, diffus bedrohlicher Solitär in urbaner Landschaft aus vier verschiedenen Blickwinkeln. Gemeinsam sind den vier Arbeiten neben dem Architektur-Phallus lesbare Zeichen – Buchstaben und Zahlen, die in die unter den Kugeln befindliche Malerei integriert oder in die Kugelschicht eingebettet sind. In zwei Bildern hat Kriesche einzelne Buchstaben oder Wörter von heller Farbe auf kleinen schwarzen kreisrunden Flächen verwendet, die zwischen den Kugeln sitzen. Die Einzelwörter führen bei Haken schlagender Leserichtung zu einem bekannten Shakespeare-Zitat: „To be or not to be“. Mit den kleinen schwarzen Flächen kommt Verfall in den Sinn – das Zitat mit seinen zwei Optionen scheint in die Alternativlosigkeit überführt. Beim nächsten Bild zeigen die kleinen schwarzen Flächen, hier vier an der Zahl, einzelne Buchstaben, die das Wort „GRAL“ ergeben – auch in diesem Fall mit einem Schlenker in der gewohnten Leserichtung. Der Gral, dieses ewige Lebenskraft verheißende heilige Gefäß aus der mittelalterlichen Artus-Sage, lässt sich hier übertragen auf die Fiktion des Geldes, an die wir als etwas Heilbringendes immer noch alle glauben müssen, obwohl das die meisten schon lange nicht mehr wollen. Das Wort GRAL auf Kriesches EZB-Bild, dessen L auf dem Main schwimmt und dessen G und R in der Luft hängen – nur das A sitzt fest auf dem Bankgebäude – legt das nahe. „Blaugeld“ ist das Wort, das in Serifenschrift auf dem dritten EZB-Bild zu lesen ist. Das Kunstwort versprüht etwas Toxisches vor seinem natürlichen Hintergrund – grünen Büschen. Im vierten Bild aus der EZB-Serie dominieren schwarze Nullen in Form von elliptischen schwarzen Ringen. Diese Nullen sind null verbunden mit dem Leben. Sie sind um ihrer selbst willen da, lesen sich wie Fremdkörper in ihrer Umgebung – übermächtige abstrakte Dinge, die das Leben plötzlich konkret bestimmen. Als unbequeme Wahrheiten lassen sie sich im Alltag trotzdem verdrängen. In Kriesches EZB-Bildern kann man diesen Einflüssen nicht aus dem Weg gehen – jedoch ohne, dass hier eindeutige visuelle Botschaften vermittelt sind.

Die sechs Arbeiten bringen diese Zeilen eigentümlich ins Bild. In dieser Serie ist die Glaskugelbeschichtung von weißen Flächen durchbrochen, die frisch aufsprudelndes Wasser zeigen. Zu sehen ist in jedem der sechs Bilder eine einzelne Schwimmerfigur – eine Frau oder ein Mann – in einigen Motiven festgehalten im Moment des Sprungs ins Wasser, in anderen Motiven ausgestreckt im – beziehungsweise unter – Wasser, möglicherweise unmittelbar nach dem Sprung. Sekundenschnelle Momente des lustvollen Ausgeliefertseins an das menschenurzeitliche Element des Wassers – im Schwebezustand verewigt.
Eine weitere Glaskugel-Arbeit von Johannes Kriesche heißt „Doppelengel“ und ist Teil einer Serie von Figuren, die von den Rändern des Bekannten und Vertrauten zu kommen scheinen und in Kriesches Serie in den Mittelpunkt gerückt sind. Das Bild ist aus der Denk- und Fühlpraxis des Künstlers ins Bild geholt und repräsentiert Identität als etwas Uneindeutiges, Vorläufiges, sich Auflösendes und wohl nur in diesem Sinn auch Schützendes.


Dr. Barbara Frenz