Im Glasperlenspiel
(Katalogtext, Barbara Frenz, von 2019, anlässlich der Ausstellung im Kunstverein BOK, Offenbach)
Räumliche wie zeitliche Ferne, eine spezifische Verfremdung in etwas Anderes, der Lebenswelt Enthobenes entsteht in Kriesches Arbeiten mit dem lichtdurchlässigen Medium, das er über die mit Aktualität aufgeladenen Bilder legt. Bis vor Kurzem war dieses Medium Paraffin. In seinen aktuellen Arbeiten ist die Verfremderschicht, die man auch als die „Kriesche-Brille“ bezeichnen kann, fragmentiert. Fragmentiert in jene unzähligen transparenten Glaskugeln, deren Strukturgebung an antike Mosaiken, auch an Pixel oder – wenn sie nicht vollflächig, sondern linear ist – an Body-Art erinnert, die auf den Körper der Leinwand gebracht ist. Kriesche gibt den Bildern selbst einen Blick – oder richtiger: Tausende von Blicken. Die zeitliche Nähe, die durch die gewählten Themen beziehungsweise konkreten Motive entsteht, wird damit wieder in die Ferne gerückt. Stellt man sich vor die Arbeiten, kann man das erfahren. Beispiele dafür sind die bereits erwähnten vier Porträts des EZB-Towers in Frankfurt am Main, der bis vor Kurzem ins Atelierfenster des Künstlers ragte, mittlerweile von einem Fiat-Chrysler-Neubaukomplex verstellt ist.
Ein übermächtiger, diffus bedrohlicher Solitär in urbaner Landschaft aus vier verschiedenen Blickwinkeln. Gemeinsam sind den vier Arbeiten neben dem Architektur-Phallus lesbare Zeichen – Buchstaben und Zahlen, die in die unter den Kugeln befindliche Malerei integriert oder in die Kugelschicht eingebettet sind. In zwei Bildern hat Kriesche einzelne Buchstaben oder Wörter von heller Farbe auf kleinen schwarzen kreisrunden Flächen verwendet, die zwischen den Kugeln sitzen. Die Einzelwörter führen bei Haken schlagender Leserichtung zu einem bekannten Shakespeare-Zitat: „To be or not to be“. Mit den kleinen schwarzen Flächen kommt Verfall in den Sinn – das Zitat mit seinen zwei Optionen scheint in die Alternativlosigkeit überführt. Beim nächsten Bild zeigen die kleinen schwarzen Flächen, hier vier an der Zahl, einzelne Buchstaben, die das Wort „GRAL“ ergeben – auch in diesem Fall mit einem Schlenker in der gewohnten Leserichtung.
Der Gral, dieses ewige Lebenskraft verheißende heilige Gefäß aus der mittelalterlichen Artus-Sage, lässt sich hier übertragen auf die Fiktion des Geldes, an die wir als etwas Heilbringendes
immer noch alle glauben müssen, obwohl das die meisten schon lange nicht mehr wollen. Das Wort GRAL auf Kriesches EZB-Bild, dessen L auf dem Main schwimmt und dessen G und R in der Luft
hängen – nur das A sitzt fest auf dem Bankgebäude – legt das nahe. „Blaugeld“ ist das Wort, das in Serifenschrift auf dem dritten EZB-Bild zu lesen ist. Das Kunstwort versprüht etwas
Toxisches vor seinem natürlichen Hintergrund – grünen Büschen. Im vierten Bild aus der EZB-Serie dominieren schwarze Nullen in Form von elliptischen schwarzen Ringen. Diese Nullen sind null
verbunden mit dem Leben. Sie sind um ihrer selbst willen da, lesen sich wie Fremdkörper in ihrer Umgebung – übermächtige abstrakte Dinge, die das Leben plötzlich konkret bestimmen. Als
unbequeme Wahrheiten lassen sie sich im Alltag trotzdem verdrängen. In Kriesches EZB-Bildern kann man diesen Einflüssen nicht aus dem Weg gehen – jedoch ohne, dass hier eindeutige visuelle
Botschaften vermittelt sind.Sekundenschnelle Momente des lustvollen Ausgeliefertseins an das menschenurzeitliche Element des Wassers – im Schwebezustand verewigt.
Eine weitere Glaskugel-Arbeit von Johannes Kriesche heißt „Doppelengel“ und ist Teil einer Serie von Figuren, die von den Rändern des Bekannten und Vertrauten zu kommen scheinen und in
Kriesches Serie in den Mittelpunkt gerückt sind. Das Bild ist aus der Denk- und Fühlpraxis des Künstlers ins Bild geholt und repräsentiert Identität als etwas Uneindeutiges, Vorläufiges, sich
Auflösendes und wohl nur in diesem Sinn auch Schützendes.
Dr. Barbara Frenz